Leben ohne Social Media

Existierst du eigentlich weiter, wenn du deine Social Media Accounts löschst?

Gar nicht so leicht zu sagen.

Denn deine Online Persona scheint ein Teil von dir zu sein.

Menschen beziehen sich auf deine Online Persona, privat und im Business.

Veröffentlicht am

Blog

Vergleichen sich mit ihr, beneiden sie, urteilen über sie.

Aber geht es da wirklich um dich, den Menschen?

Nein.

Deine Online Persona ist fiktiv. Sie existiert nur digital.

Zusammengesetzt aus ein paar Fotos, Worten und Daten (ausgedacht und/oder faktisch korrekt).

Aber es fühlt sich so echt an, wenn deine Online Persona Lob oder Tadel erntet.

Existierst du also weiter ohne sie?

Ja, natürlich. Klar. Keine Frage.

Aber fühlt es sich dennoch an, als würdest du der Welt den Rücken kehren, nichts mehr mitkriegen, wichtige Kontakte aufgeben, lukrative Gelegenheiten verpassen?

Kann passieren, ja.

Und, vielleicht stimmt es für dich ja auch.

Vielleicht verlierst du Kontakte, verpasst mal eine tolle Chance, machst weniger Kohle …

Also, was spricht denn dann bitte dagegen, Social Media zu nutzen?

Was mir an Social Media nicht gefällt

Zunächst einmal, dass es kostenlos ist.

Das Problem mit kostenlosen Angeboten

„Kostenlos ist mein Lieblingspreis. Was soll daran falsch sein?“ sagt eine Stimme aus dem Off.

Naja. Nehmen wir Facebook. Die Technik, Infrastruktur, Angestellten, etc. kosten hunderte Millionen. Jedes Jahr. Aber kosten tut Facebook nix.

Also, wie finanziert sich Facebook?

Hauptsächlich durch den Verkauf von Werbeanzeigen. Und diese Werbung wird jeweils an ganz spezifische Menschen ausgeliefert, die mit möglichst hoher Wahrscheinlichkeit klicken. Und dann, im besten Fall, kaufen.

Warum Werbetreibende ihre Anzeigen so überaus präzise platzieren können? Weil Facebook die Daten allseiner Benutzer speichert und targetierbar macht.

Also, ganz so kostenlos sind Facebook und Konsorten dann doch wieder nicht. Du bezahlst zwar nicht mit Euros, dafür aber mit deinen Daten.

Warum ich nicht will, dass Facebook meine Daten hat

Da kommt wieder diese Stimme aus dem Off:

„Aber wo liegt denn das Problem daran, dass Facebook meine Daten speichert und verkauft? Ist mir ehrlich gesagt ziemlich egal. Ich bezahle lieber mit meinen Daten als meinen Euros!“

Kann ich verstehen. Allerdings glaube ich, dass es zu kurzfristig gedacht ist.

Willst du denn wirklich, dass ein riesiges, privates Unternehmen alles von dir weiß?

Deine Krankengeschichte, unangebrachten Äußerungen (natürlich nur im Scherz!) und deine unpopulären Meinungen.

Und dazu noch eine Sammlung deiner Nackt-Selfies, eine Liste mit all deinen Affären und ein Best-Of deiner versauten Chats?

Von deiner politischen Gesinnung ganz zu schweigen.

Oh. Ja. Und das Ganze nicht nur von deinem heutigen Selbst. Sondern auch vor 5 oder 10 oder 15 Jahren? Wie „richtig“ hast du damals eigentlich gedacht und gehandelt, gemessen am moralischen Standard von heute?

Und jetzt nehmen wir doch einfach mal folgendes an:


Ein neues Gesetz (irgendwas „zu deiner Sicherheit“) wird verabschiedet, welches jedwede Form von radikalem und hasserfüllten Gedankengut unter Strafe stellt.

Und deine Regierung gibt Facebook eine Liste mit Wörtern.

Und Facebook gibt deiner Regierung eine Liste mit Menschen, die diese, jetzt verbotenen, Wörter verwendet haben.

Und du bist auf dieser Liste.

Und deine Regierung stellt sich unter Verdacht radikal und hasserfüllt zu sein.

Doof, oder?

Also ich fände das so richtig doof.

Nehmen wir nochmal was anderes an:


Du möchtest politisch aktiv werden, ein öffentliches Amt übernehmen, ach einfach für das Gute kämpfen! Oder bist vielleicht sogar schon weit geklettert auf der politischen Sprossenleiter …

Aber die Chefetage von Facebook hat eine ganz andere Weltanschauung, als du.

Die finden alles richtig kacke, was du richtig toll findest.

Und dann sagt vielleicht mal einer, der was zu sagen hat bei Facebook, zu jemand anders, der auch was zu sagen hat: „Hey, diese Pissnelken (btw: eine davon bist in diesem Beispiel du) sollen unsere Plattform aber bitte nicht dafür missbrauchen ihre hirnverbrannte Agenda an die Leute zu bringen. Ich hab da ne Idee…“

Komisch. Du kriegst auf einmal viel weniger Likes.

Komisch. Viel weniger Leute kommentieren deine Posts.

Komisch. Dein Konto ist gesperrt, weil du gegen die Nutzerrichtlinien verstoßen.

Ein echter Brüller, echt… komisch.

Harmonie gefällig?

Geht natürlich auch anders.

Wie wäre es stattdessen, wenn alles, was du postest gut ankommt? Dir niemand widerspricht, dir niemand ein Gegenargument in die Speichen wirft und auch bitte nichts Böses zu dir sagt?

Willkommen in der Bubble.

(Deine Bubble ist übrigens die beste Bubble)

Facebook kann nämlich noch einen Trick: Menschen gleicher Meinung zusammenbringen. Auf ganz engem Raum. Mit ganz dichten Wänden. Mit Sicht- und Hörschutz vor anderen Perspektiven und Weltanschauungen – eh, ich meine natürlich geschützt vor hate speech!

Denn niemals vergessen: Diese Maßnahmen dienen nur Ihrer Sicherheit.

Facebook bestätigt uns, das was wir denken der Wahrheit entspricht. Ähnlich unserem Gehirn, das gerne Beweise für Vorurteile sucht und findet – egal, ob diese richtig oder total bescheuert sind.

Prächtig, deine ganz persönliche “echo chamber”.

So. Nun lass uns mal davon ausgehen, dass es 1000 von diesen Bubbles gibt, in denen alle Teilnehmer täglich ihr Welt- und Menschenbild bestätigt bekommen. Über Wochen, Monate und Jahre die gleiche Message: Du hast Recht. Du hast Recht. Du hast Recht.

Und Facebook so: Das wird sicher nie Probleme machen. Ganz sicher. Never, ever! Indianer Ehrenwort. Ihr könnt uns da vertrauen. Null Problemo. Macht euch da keine Sorge. Wir haben das im Griff. Ganz fest im Griff. Sowas. Von Fest. Im Griff.

Depression, Selbstmorde und eine Heerschar Psychologen

Das mit den Daten ist nicht ganz cool. Darauf können wir uns einigen, oder? Aber etwas abstrakt ist es dann doch. Denn dir oder mir würden solche Horrorszenarien ja, Gott sei es gedankt, nie passieren. Das passiert nur den Anderen.

Hier ist noch etwas, das nur den Anderen passiert: Depression und Selbstmord.

Besonders dieser Art von Anderen, die jünger sind, als du. Man könnte sie auch Teenager nennen.

Weißt du noch damals, vor 3 Minuten, am Anfang dieses Artikels? Als wir entlarvt haben, dass man seine eigene Online Persona mit seinem wahren Selbst ganz leicht verwechseln kann?

Und wann war nochmal diese Zeit, als Dazugehören, Freunde haben und sich-bloß-nicht-blamieren extrem mega wichtig war?

Genau.

Immer.

Okay, Wahrheit bei Seite.

Ich spreche natürlich von unserer Jugend.

Stell dir vor du bist 15.

Deine Online Persona (in deinem Empfinden Du Selbst) kriegt keine Likes. Du hast schließlich keine coolen Klamotten. Geschieht dir also recht. Mit dem Freunde machen klappt das auch irgendwie nicht. Deinen TikTok-Kanal kuckt keine Sau. Und du hast vergessen deine peinlichen Fotos mit Anime-Spielzeug von vor 3 Jahren zu löschen. Und, oh mein Gott, finden das alle in deiner Klasse lustig. Und was bist du nicht für ein Spast. Und Idiot. Und Opfer. Hahaha, schreiben dann alle. Und morgen musst du schon wieder in den Unterricht. Und wieder werden dir die Sprüche reingedrückt. Und jetzt hat einer aus der anderen Klasse dein Gesicht auf ein Pokémon gepackt. Der Spruch drunter ist sowas von lustig. Und jetzt bist du ein Meme auf deiner ganzen Schule. Und Gott sei Dank erinnert dich Facebook mehrfach am Tag daran.

Man, ey. Schon wieder so ein gottverdammter Brüller, über den alle lachen.

Ha.

Ha.

Aua.

Aber das ist doch nicht Facebook‘s Schuld

„Kinder können gemein sein. Das hat nichts mit Social Media zu tun.“ sprach es aus dem Wald der Gegenargumente.

Kinder waren eklig zueinander, lange vor Social Media. Keine Frage.

Aber nur, weil wir Menschen uns moralisch verwerflich verhalten können, müssen wir unseren Kindern keine Plattform vorsetzen, die unsere niederen Instinkte weckt – und diesen Steroide injiziert!

Facebo- ach komm, nehmen wir mal Instagram zur Abwechslung.

Instagram lebt von unserem tiefen, sehnlichen Wunsch nach Aufmerksamkeit, Wertschätzung und Liebe.

Alle wollen wir geliebt werden.

Und alle haben wir tierische Angst davor, nicht geliebt zu werden – oder schlimmer noch: Die Angst davor, an sich nicht wert zu sein, geliebt zu sein.

Instagram gibt uns die Gelegenheit genau das zu testen: Wie sehr werde ich geliebt? Wie wertvoll bin ich? Wie populär bin ich?

Die Regeln sind leicht zu verstehen:
Zahl groß = viel Liebe.
Zahl klein = wenig Liebe.
Zahl Null = Wertloses Stück Scheisse.

Dass ich nichts über meine eigentliche Liebenswürdigkeit herausfinde, sollte uns klar sein. Ich kann nur herausfinden, was in meinem Umfeld auf positive Resonanz trifft. Und dann mehr davon machen. Und beliebt sein. Oder mich zumindest so fühlen – bis das Dopamin verbraucht ist.

Und hier fängt Instagram gerade erst an zu wirken, denn meinen eigenen Wert in einem Vakuum zu überprüfen wäre ja irgendwie langweilig.

(Der Autor, also ich, Jakob, bemerkt, wie bitter-sarkastisch er im Moment schreibt.)

Die wahre Errungenschaft von Instagram liegt hier: im Vergleich.

Was sind meine 13 Likes gegen seine 100 Likes wert?

Wie hat sie 500 Follower bekommen? Ich hab nur 43.

Und was ist eigentlich falsch mit mir?

Dein Stoff wirkt noch nicht krass genug? Ruf die Psychologen!

Warum hat eigentlich jeder einen Instagram (ersetzbar mit jeder anderen Social Media Plattform) Account?

Weil sie genau dafür gemacht und gestaltet sind. Es soll sich so anfühlen, als würdest du etwas verpassen, wenn du nicht dabei bist. Du sollst mindestens (!) einmal am Tag in deinen Account reingucken, um Nachrichten, Benachrichtigungen und Feed zu checken. Du sollst dir andere Profile anschauen. Du sollst dich vergleichen. Du sollst hirnlose, oder hirnvolle (ganz egal eigentlich) Posts verfassen.

Denn nur dann bekommt Instagram, was es zum Leben braucht:

  • Deine Daten, die es an Werbetreibende verkauft
  • Deine Augen und Ohren, um dir personalisierte Werbung zu zeigen

Und wie kriegt Instagram das hin? Ist es einfach ein so geiles, „kostenloses“ Produkt, dem niemand widerstehen kann?

Naja, das Produkt ist ganz okay. Aber ohne „das gewisse Etwas“, wäre es auch nicht so der Hammer.

Wir hacken dein Hirn

Dieses Etwas sind hunderte von kleinen Tricks und Kniffen, welche von Instagram verwendet werden, um ganz viele kleine Widerhaken in dir zu versenken. Psychologische Widerhaken.

Denn Meta (denen gehört Facebook und Instagram) beschäftigt dutzende Psychologen, um herauszufinden, wie sie dich von ihrem Produkt noch abhängiger machen können. Damit du noch öfter die App aufmachst, noch tiefer scrollst und noch mehr Werbung siehst.

So wird in deinem Gehirn, vom Stammhirn (Überleben) über dein limbisches System (Emotionen) bis hin zum Neo-Frontal-Cortex (Schaltzentrale) so richtig Alarm gemacht.

Und genau das Gleiche tun erfolgreiche Content Creator auch: Sie werfen mit jedem Post binnen Sekundenbruchteilen ihre kleinen Widerhacken in deine Richtung aus. So, dass du gar nicht anders kannst, als zumindest für ein paar Augenblicke deine Aufmerksamkeit auf den Inhalt zu richten. In diesem kurzen Zeitfenster müssen dann die nächsten Widerhacken fliegen. Und so weiter, und so fort.

Die Grenze zwischen inspirierendem Inhalt und Junk-Food-Informationen liegt hier, in meiner Erfahrung, sehr nah beieinander. Selbst Inhalte, die deinen Interessen entsprechen, halten einfach nicht lange vor: Ein eeecht spannender Clip auf Instagram beglückt in der Regel nur so lange, wie ein ein Stück Schokolade: etwa 20 Sekunden und dann brauche ich mehr.

Und wer kann es den Content Creatorn verübeln, dass sie das System möglichst erfolgsversprechend nutzen?

Ich zum Beispiel. Ich kann das gut und gerne verübeln. Aber das ist ein anderes Thema 😉
(Ein Thema, bei dem ich meine eigene Doppel-Moral auflegen müsste. Spannend eigentlich.)

Das Teufelsgebräu: Dein Feed

Bis jetzt haben wir uns angeschaut, was für einen Cocktail uns Instagram & Co gemixed haben. Ein Cocktail mit vielen Zutaten. Manche davon an sich ganz lecker. Aber genau dieser Cocktail, in diesem Mix, ist absolut widerwärtig. Richtig zum Kotzen.

Und wo wird dieser Cocktail serviert?

In deinem Feed.

Hier trifft alles aufeinander: Deine Daten werden auf Hochtouren gesammelt; jeglicher psychologischer Trick wird verwendet, um dich bei der Stange zu halten; du wirst vollgestopft mit Werbeanzeigen; und nochmal vollgekippt mit “privaten Posts”, die dir auch nur irgendwas andrehen wollen; und dann auch noch die echten privaten Posts, die frei jedweden Wertes dahinwabern; noch ein Shitstorm dazu, ein paar Titten und Katzen; und zu guter Letzt der eine, wirklich gute Post, der dich davon überzeugt, dass Social Media eben doch nicht nur Schrott ist.

Et Voilà. Der Dopaminspiegeln steigt. Und fällt bald wieder. Und dann ist es Zeit für die nächste Runde.

Und wer ist der Barkeeper? Der dieses Teufelsgebräu jederzeit, an jedem Ort serviert? Du kannst ihn Rithmus nennen, Vorname Algo.

(Der Autor, immer noch ich, Jakob, versucht sein Bestes den Metaphern Einhalt zu gebieten.)

Der Feed ist, aus meiner Sicht, das Epicenter der ganzen Social Media Misäre. Denn es passieren zwei gefährliche Dinge zugleich:

  1. Deine Aufmerksamkeit, dies kostbare Gut, wird zusammen mit deiner Zeit von einem schwarzen Loch verschluckt
  2. Du füllst deine Sinne, dein Hirn und dein Herz mit wahllosen, minderwertigen Inhalten – immer und immer und immer wieder

Bitte, tu dir das nicht weiter an.

Aufrichtigst,
Jakob

Hinterlassen Sie den ersten Kommentar