Das einzelne Thema (Massenmigration, Corona, Ukraine, Klima, Energie, Israel-Palästina) scheint egal geworden zu sein. Das Ergebnis ist das gleiche:
- Die Standpunkte sind innerhalb kürzester Zeit extrem (und anhaltend) polarisiert
- Wir äußern unsere Meinung nur vor Menschen, die unserer Meinung sind
- Wir wissen, welche Meinung öffentlich, die “richtige” ist
- Wir haben Angst, unsere Meinung öffentlich zu teilen
- Natürlich besonders, wenn es die “falsche” ist
- Wir wollen nicht durch Kontaktschuld vor unserem eigenen Meinungslager schlecht dastehen
- Beispiel: Der Maßnahmenkritiker muss prinzipiell alles aus den Mainstreammedien doof finden
- Oder: Der Grünenwähler darf auf keinen Fall Comedy lustig finden, die Feminismus durch den Kakao zieht
- Jede Frage scheint moralisch schwer zu wiegen, obwohl es oft um rein praktische Frage geht
Also irgendwie haben wir alle Schiss, sind durch eine Krise nach der anderen im Dauerstress und verhalten uns wie die Höhlenmenschen. Nur dass die Keulen größtenteils aus Rhetorik bestehen, in Moralin getunkt wurden und der angerichtete Schaden emotional, nicht physisch ist.
Ich rätsele über die folgenden Fragen:
- Warum arbeiten wir bei brisanten Themen und schwierigen Zeiten gegeneinander und nicht miteinander?
- Wie konnte es passieren, dass sich Familien wegen unterschiedlicher Auffassungen einer Ausnahmesituation unversöhnlich zerstreiten?
- Warum zerbrechen gute Freundschaften über (politischen) Meinungsverschiedenheiten?
Michael Andrick gibt einige sehr erhellende Denkanstöße zu diesen Fragen und Phänomenen. Seine Punkte möchte ich ungern wiederkäuen. Einige Interviews mit ihm und sein Buch verlinke ich am Ende des Artikels.
Mich interessiert darauf zu schauen, was ich selber zur Spaltung in meinem Heimatland beitrage.
Ich spalte mit
„Spaltung lebt vom Mitmachen“ war die erste geistige Breitseite vor meinen Bug von Hrn. Andrick.
Seit mich gesellschaftliche Zusammenhängen interessieren, seien sie politisch, geschichtlich, psychologisch, kann ich rückblickend ein an Stärke wachsendes Gefühl erkennen:
Ich komme der Wahrheit näher.
Meinem einzelgängerischen/eigensinnigem Naturell entsprechend, stelle ich gerne von vornherein infrage, worauf sich die Mehrheit einigt. Und bin tendenziell gerne erstmal dagegen.
In diesem persönlichen Nährboden wachsen Gedankensamen, a là „es ist eigentlich ganz anders, als alle denken“ prächtig. Und wenn die neue Pflanze, nennen wir sie „Durchblickia“, dann zu voller Größe gewachsen ist, trägt sie gerne die Blüten der Überlegenheit.
Ich denke dann, dass ich in bestimmten Themen besser Bescheid weiß, was hier eigentlich läuft, als alle, die der herkömmlichen Meinung ihren Glauben schenken.
Kann ja sein, dass ich es besser verstehe. Kann genauso gut auch nicht sein. Tut auch gar nichts zur Sache. Das Wichtige: Ich selbst bin davon überzeugt! Und das führt zu einem Überlegenheitsgefühl.
Das wird dann noch mit diesem Gefühl, der Wahrheit auf die Spur zu kommen, gemischt. Und, natürlich, bin ich (und mein Lager) auf der Seite des Guten.
Das Ergebnis dieser Mischung aus (scheinbarer) geistiger Überlegenheit, (scheinbarer) Wahrheitsnähe und einem (scheinbaren) moralischem Thron ist es, dass ich aufhöre, mich dafür zu interessieren, wie Menschen anderer Meinung zu ihrem Standpunkt gekommen sind. Vollkommenes Desinteresse.
Andersdenkende Menschen werden Idioten für mich, denen es nicht lohnt zuzuhören. „Corona-Gläubige“ habe ich zu großen Teilen belächelt und für ängstlich oder verblendet gehalten. Als hoffnungslose Fälle abgestempelt!
Der Glaube in mir wuchs, die Lösung für unsere in Lager aufgeteilte Gesellschaft sei, dass einfach nur genug Menschen erkennen müssen, was eigentlich los ist. Sprich: Es müssen einfach nur genug der „Idioten“ verstehen, dass ich und mein Lager recht haben und deswegen dann zu uns wechseln. Und wenn „wir“ erst genug sind, dann wird der Rest schon folgen.
Die Logik kann ungefähr auf diesen Satz runter gedampft werden: Wenn wir uns nur alle einig sind, dass die Corona-Maßnahmen Schwachsinn waren, dann wird alles gut!
Niedergeschrieben wirkt mein Gedankenkonstrukt fast wahnwitzig auf mich. Besonders, weil ich tatsächlich daran glaube —
… oder glaubte?!
Wahrheit oder Kompromiss
Von Dr. Andrick hörte ich den Gedanken, dass es das Ziel von Demokratie sei, Kompromisse in der Gesellschaft zu finden. Im Sinne von „Ich sehe die Welt so und du siehst sie ganz anders, wie können wir eine passable Lösung für unser beider Leben finden?“ Es geht erstmal überhaupt nicht um die Wahrheit. Und nicht darum, den anderen von seiner Meinung zu überzeugen bzw. den anderen wegen seiner anderen Meinung abzuwerten, nicht ernst zu nehmen oder gleich direkt zensieren zu wollen.
In meinem Hirn begann es zu knirschen.
In Andrick’s Bild (so wie ich es verstehe) geht es eigentlich gar nicht darum, den andern von irgendwas zu überzeugen. Es geht darum, sich voll Eifer zu streiten bzw. vollkommen unterschiedliche Meinungen am gleichen Tisch haben zu können. Aber nie den Wert des anderen Menschen anzugreifen oder geringzuschätzen, nur thematisch zu ringen. Mit dem Ziel, ein Setting zu schaffen, mit dem alle Beteiligten klarkommen.
Also wenn das gesellschaftlicher Austausch ist, auf dem Politik fußt und der medial widergespiegelt wird … wo kann ich mich dafür anmelden?!
Mich bewegt Herrn Andrick’s Arbeit so tief, weil ich zum ersten Mal eine echte „hin zu“-Sehnsucht spüre, im Gegensatz zum ewigen „weg von“. Ich spüre die Hoffnung, dass ich persönlich an entscheidender Stelle einen Unterschied machen kann: Unser Miteinander zu stärken!
Und der stärkste Eindruck: Unterschiedliche Meinungen sind nicht das Problem.
(Ich komme mir fast bescheuert vor, eine scheinbar so banale Antwort als Erkenntnis zu verbuchen! Aber irgendwie habe ich mich darin doch so festgebissen, die Wahrheit zu erkennen, dass ich sie über Menschen stelle: Ich hab lieber die Wahrheit auf meiner Seite und halte dich für einen Depp, als dir die Hand zu reichen und an einer Lösung für unser gemeinsames Dilemma zu arbeiten.)
Wahrscheinlich ist es sogar ganz prächtig, dass wir innerhalb einer Gesellschaft so unterschiedliche Perspektiven haben. So können bessere Lösungen auftauchen, weil das Problem von allen Seiten aus betrachtet wurde. Aber dafür müssen die Moralknüppel zu Hause gelassen werden. Anstatt dessen ist die Herausforderung, sich unvoreingenommen zu begegnen. Puh.
Ich muss das erst lernen …
Mein Gott, bin ich voreingenommen!
Aber zunächst nochmal dorthin, wo es (mir) weh tut! “Schatz, reich mir bitte meine brutal-ehrliche Brille nochmal, ich muss mein eigenes, spaltendes Verhalten weiter durchleuchten“
Ich spalte, Teil 2
Ich stelle fest, dass in mir ein automatisches Abwertungsprogramm abläuft, welches bei mir vollkommenen Widerwillen gegenüber weiterem Austausch zum jeweiligen Thema verursacht, sobald mein Gegenüber folgendes sagt bzw. erkennen lässt:
- Sieht Mainstream- bzw. Leitmedien (ARD, ZDF, Zeit, Spiegel, etc.) als legitime Quelle an
- Wählt Grün
- Gendert in seiner Sprache
- Schimpft über AfD, Putin, Trump, „Nazis“, etc.
- Interessiert sich (stark) für Feminismus, beschwert sich über „das Patriachart“
- Sagt irgendwas über Klimawandel/-katastrophe
- Redet von „weißen, alten Männern“
- Fand Corona gefährlich (und sagt „Pandemie“ dazu)
- Ist gegen Corona geimpft
- Und mehr!
Trifft davon was auf dich zu? Glückwunsch! Du wurdest soeben von mir abgewertet.
Je mehr falsche Meinungen du hast, desto schwerer hast du es, meine Sympathie zu wecken. Das drückt sich so aus, dass ich diese Themen dann tunlichst vermeide, mit dir anzusprechen. Ich habe keinerlei Interesse daran, herauszufinden, wie du zu deinem Standpunkt gekommen bist. Ich habe kein Interesse an einem Kompromiss. Ich hoffe nur, dass du irgendwann, irgendwie „aufwachst“ und endlich die Welt richtig, also so wie ich, siehst.
Schwarz auf weiß liest sich das, weiterhin, wahnwitzig. Ganz besonders, weil ich mir ziemlich sicher bin, dass viele Menschen intern ganz ähnlich operieren.
Ich habe schon lange aufgegeben zu glauben, andere Menschen von meiner Meinung direkt überzeugen zu können. Ich habe es noch nie erlebt, dass sich ein„Corona Believer“ in einen „Maßnahmenkritiker“ verwandelt (oder andersrum), weil das Gegenüber so tolle Argumente hatte oder so energisch gesprochen hat.
… aber insgeheim hoffe ich fleißig weiter, dass die Anderen irgendwann doch meine (bessere, ha!) Meinung annehmen werden!
Eine Erkenntnis später
“Spaltung lebt vom Mitmachen” und während ich mit dem Finger auf die Anderen zeigte, zeigten drei Finger auf mich.
Durch die geistige (und jetzt auch niedergeschriebene) Auseinandersetzung bin ich mir zweifelsfrei sicher, dass ich aus Versehen, jedoch mit Elan, zur Spaltung beigetragen habe.
Well, shit!
Aber sich darüber zu grämen, bringt ja auch niemanden etwas. Besserung zu geloben, scheint mir auch nicht zielführend.
Ich kann jetzt erkennen, was ich vorher höchstens erahnen konnte. Ich bin überzeugt davon, dass sich dadurch mein Kurs ab hier ändert. Wie genau das aussieht und wo es mich hinführt? No fucking clue.
Bis dann,
Jakob
YouTube-Videos und Buch
Hier der Link zu seinem Buch “Im Moralgefängnis”.
Hier die 4 YouTube-Videos, die ich stand heute (10. September 2024) gehört habe:
3 Kommentare
Michael Andrick
Freut mich, dass Sie solche tiefen Anregungen aus meinen Sachen ziehen. Danke, dass Sie das öffentlich machen.
Jakob Eichhorn
Herzlichen Dank für Ihre Rückmeldung und Ihre Arbeit! Ich befinde mich aktuell in den letzten Kapiteln des “Moralgefängnis” und empfinde das Buch als äußerst bereichernd. Ich bin optimistisch, auch mein eigenes Moralgefängnis bereits ein ganzes Stück weit demoliert zu haben und den Duft der Freiheit zu riechen 🙂