Das 1. Jahr Offline-Wochenenden: Mein Resumé

 

Das Experiment, jedes Wochenende offline zu verbringen, dauert nun bereits ein Jahr. Hier sind meine Erlebnisse und Erkenntnisse.

Wir starten mit einer bitteren Erkenntnis:
Offline Sein an sich inspiriert nicht, motiviert nicht und macht nicht glücklich.

Aber es schafft ideale Voraussetzungen, damit mir Inspiration und Motivation begegnen können. Und es zeigt mir sehr deutlich, was mich unglücklich macht, mich stresst und mich Kraft kostet.

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Offline zu sein hält mir immer wieder schonungslos den Spiegel vor:

Was will ich jetzt tun?
Wie gestalte ich einen guten Tag?

Mich nicht jederzeit bedudeln lassen zu können, ist auf bestimmte Art und Weise brutal, da ich es so extrem gewöhnt bin immer einen Rettungsknopf drücken zu können, der mir in wenigen Augenblicke eine kuschelig-vertraute Unterhaltungs-Decke bereitstellt.

Es ist so unendlich viel einfacher sich abzulenken, als den eigenen Gedanken und Gefühle zu begegnen!

In meinem Online-Leben kann ich zu jedem Moment an meinen Laptop springen und mir Musik, Podcasts und Vorträge anhören. Oder Filme und Serien gucken. Oder meine Emails und Nachrichten checken.

Nachdem ich „eine Runde der Ablenkung“ gedreht habe, kann ich ohne weiteres auch noch eine weitere Runde drehen. Und noch eine, und noch eine. Dass ich völlig zweckfrei meine Emails innerhalb von 2 Stunden mehrere Male checke, fällt mir in dem Zustand dann gar nicht auf.

Offline ist die Auswahl meiner möglichen Aktivitäten (und Ablenkungen!) überschaubar und dadurch limitiert, was mir konkret und vor Ort zur Verfügung steht.

Online ist die Auswahl der Unterhaltung unendlich und jederzeit verfügbar.

Alles Unwohlsein lässt sich auf diese Art kurzzeitig behandeln, aber nie heilen. So, als hätte ich 1000 Kisten Ibuprofen zur Verfügung, wenn ich eigentlich Antibiotika bräuchte.

(Das ist nicht zu unterschätzen! Erst seit 10-20 Jahren hat der Mensch Zugang zu unendlichen Mengen von Unterhaltung und kann sie jederzeit nutzen. Vor dem Internet (im Privathaushalt), Smartphones und Social Media wurde uns zwar auch schon verdammt viel Unterhaltung angeboten, aber im Vergleich zu heute waren das Peanuts. Heute kann sich jeder zu jederzeit auf hocheffiziente Weise ablenken. Wäre es nicht naiv davon auszugehen, dass das keine negativen Folgen hat?)

Wunderbar eingeschränkt

Nach dem Jahr Offline-Experimenten sticht für mich besonders die Passivität des Online-Lebens hervor. Es braucht keinerlei Anstrengung, um eine lange Kette von unterhaltsamen Inhalten in mich rein laufen zu lassen. Es ist wie ein Fließband direkt in mein Hirn.

Vor 20 Jahren dachte ich, dass das Internet so viel besser als das Fernsehen sei, weil man selbst entscheiden muss, was man sich anschaut. Man wird nicht einfach nur passiv berieselt, dachte ich.

Ich habe mich getäuscht.

Die Passivität des Konsumenten ist mindestens genauso stark, wie vor dem Internet. Nur, dass die Inhalte selbst, die Frequenz der Veröffentlichung und die Mechanismen der Übertragung heutzutage noch viel effektiver sind. Instagram ist auch nachts unterhaltsam, während damals im Fernsehen nur Wiederholung von irgendwelchen Serien aus den 80ern liefern, neben Domian und billigen Erotikclips.

Ich kann diesen Punkt nicht oft genug machen: Wir können alles zu jeder Zeit gucken/hören/lesen/spielen/bestellen. An sich nicht schlecht, aber da hinter (fast) all den Angeboten kommerzielle Interessen stehen, muss uns klar sein, dass dieses märchenhafte Angebot mit versteckten Widerhaken ausgestattet ist: Wir sollen dranbleiben und wiederkommen – für immer.

An meinen Offline-Wochenende klammere ich all das aus.

Keine Auswahl. Herrlich!

Die einzigen Bildschirmaktivitäten, die ich mir erlaube:

  1. Am Laptop schreiben (quasi wie an einer modernen Schreibmaschine)
  2. Spanisch-Audiokurs anhören
  3. Gemeinsam mit einem Freund eine Folge einer Serie oder einen Film anschauen
    (Anfangs habe ich mich gefragt, ob ich damit „cheate“. Ich sehe aber mittlerweile kein Problem darin 1 oder 2 Stunden pro Wochenende etwas gemeinsam anzuschauen und sich darüber auszutauschen, da es eine ganz andere Note hat, als sich alleine vor dem Bildschirm stundenlang „unterhalten“ zu lassen.)

Passivität funktioniert offline nicht so gut

Offline eine gute Zeit zu haben, braucht aktive Entscheidungen. Freunde treffen passiert nicht von allein, ein Spaziergang geht sich nicht selbst, das Buch liest sich mir nicht vor, Musik will ausgewählt werden.

Klar kann ich auch am Offline-Wochenende Filme en masse gucken, wenn ich ins Kino gehe. Aber die Hürde dies zu tun, ist viel höher, als wenn ich nur eben Netflix öffnen muss. Außerdem ist davon auszugehen, dass ich nach einem Film pro Tag genug vom Kinosaal haben werde.

Meine Offline-Wochenenden sind in vielerlei Hinsicht unpraktisch:

  • Jeden Freitag ist es eine mehr oder weniger große Überwindung den Stecker zu ziehen
  • Es fordert immer aktiven Einsatz ein Wochenende gut zu gestalten
  • Auch nach einem Jahr ist es nicht leicht (dafür aber leichter) offline zu sein

Die Frage ist natürlich: Lohnt es sich diese ganzen Unbequemlichkeiten auf sich zu nehmen?

„Why go through all this trouble?” würde der Ami fragen.

Warum ich nicht zurück will

Jedes Lied hat eine BPM-Angabe. Beats per Minute, also Schläge pro Minute.

Meine BPM sind am Wochenende deutlich niedriger als unter der Woche. Am Wochenende bin ich einfach nicht überreizt oder gehetzt. Diese Ruhe allein ist ein Wert, den mir kein Entertainment-Angebot der Welt aufwiegen kann.

In Zahlen ausgedrückt würde ich sagen, dass wenn meine „BPM“ unter der Woche bei 100 liegen, dann fallen sie am Wochenende auf etwa 60 ab. Und das Verrückte daran ist: Mir war vor den Offline-Experimenten nicht mal bewusst, dass ich gestresst bin!

Das Wochenende kommt.

Alles ist langsamer.
Ich werde ruhiger.
Es entsteht das Gefühl Zeit zu haben.

Hier eine Übersicht der verschiedenen Nutzen, die mir die Offline-Zeit gibt:

  1. Stressreduktion
    1. Stress der Woche erkennen
    1. Erreichbarkeitsstress ablegen
    1. Runterkommen
    1. Durchatmen
  2. Aufmerksamkeitsspanne und Geduld wächst
    1. Neues Lernen und dranbleiben
    1. Länger Lesen oder Schreiben (oder was auch immer) am Stück
    1. Ganze Alben am Stück hören
    1. In Gesprächen ganz da sein
  3. Gehirn rekalibriert sich positiv
    1. Weg von unmittelbarer Befriedigung (instant gratification)
    1. Hinzu verzögerter Befriedigung (delayed gratificatin)
    1. Langzeitziele werden attraktiv und erscheinen machbar
  4. Selbstbestimmt Leben
    1. Bewusstere Entscheidungen treffen
      1. Was ich will ich jetzt tun?
      1. Wie will ich meine Zeit verbringen?
      1. Wie lebe ich mein Leben?
    1. Ungesunde Muster erkennen
      1. Bad „stacked habits“ erkennen (z.B. nur die Tüte Chips wegfressen, wenn man vor dem Screen hockt)
    1. Am Tagesende Befriedigung und Stolz fühlen
  5. Positive Folgen von Langeweile erleben
    1. Inspiration
    1. Produktivität
    1. Motivation
    1. Prokrastination abbauen

Long story short: Ja, es lohnt sich.

Und Montagvormittag fühle ich immer den Stolz und die Zufriedenheit einer gemeisterten Herausforderung. Ein gutes Gefühl.

Typische Aktivitäten am Offline-Wochenende

Ein typischer Samstag sieht für mich so aus: ich stehe um 8 Uhr auf, mache mir Tee, lese mein Buch, esse in aller Ruhe Frühstück, gehe auf den Wochenmarkt, lege mich eine Runde hin, snacke eine Kleinigkeit, lerne etwas Spanisch. Und schwupp ist es 16 Uhr.

(Ich bin von Natur aus Stubenhocker. Aktivere Outdoor-Menschen würden so ein Offline-WE natürlich ganz anders gestalten.)

Offline zeigt sich mein eigenes Tempo. Und das ist langsam. Zumindest im Vergleich damit, wie man heutzutage so (online) lebt.

Idealerweise habe ich Samstag und Sonntag jeweils eine Verabredung. Denn auch wenn ich die Zeit am Wochenende gut nutzen kann, fühle ich mich dennoch einsam, wenn ich zu lange am Stück alleine bin. Und wirklich gute Laune bekomme ich eigentlich nur, wenn ich mit mir nahestehenden Menschen 1on1 Zeit verbringe.

Außerdem ist die Vorstellung einen ganzen Tag alleine offline zu verbringen für mich weiterhin einschüchternd. Oft ist der Tag selbst dann vollkommen in Ordnung, aber die Antizipation vom Alleine-Offline-Sein löst Unbehagen in mir aus. Trotz dutzendweiser positiver Erfahrungen!

Meine liebsten Offlineaktivitäten:

  • Lesen
  • Essen
  • Musik hören
  • Spazieren gehen
  • Freunde treffen
  • Schreiben
  • Spanisch Lernen
  • Praktisches Zeugs erledigen
  • Nickerchen machen

Besonders der letzte Punkt ist ein echtes Highlight für mich geworden. Ich erlaube mir seit einiger Zeit mich einfach direkt hinzulegen, wenn ich schlapp bin. Einfach liegen, dösen oder tatsächlich schlafen. Das klappt am Offline-WE besonders gut, weil ich viel ruhiger bin, dadurch meine Erschöpfung viel früher bemerke und mir dann Ruhe statt einem neuen Reiz (Unterhaltung) gebe.

Dieses kleine Phänomen ist für mich ganz groß, weil ich dadurch begreife, wie oft ich meinem Körper Gewalt antue, bzw. ihm mehr abverlange, als er eigentlich gerade geben kann.

Hier kommt unter der Woche die Tücke des Online-Lebens zu Tragen: Die ständige Verfügbarkeit von Unterhaltung. Die Unterhaltung lenkt mich davon ab zu bemerken, wie es mir tatsächlich geht. Es gibt immer noch ein Video, noch ein Reel, noch ein Etwas, welches mich bei der Stange hält.

Und all diese Ablenkung lässt mich schier gar vergessen, dass es die Möglichkeit gibt mich hinzusetzen und zu sagen:

„Meine Fresse, bin ich grad erschöpft.“
„Fuck, bin ich unzufrieden.“
„Mein Gott, bin ich grad einsam.“

Nein, das nächste Video zu starten ist mir dann lieber.

Noch mehr Zeit offline verbringen?

Bei all meiner Kritik wäre die logische Schlussfolgerung, dass ich noch mehr Offline Sein will. Stimmt auch irgendwie, aber gleichzeitig finde ich das Online-Leben weiterhin unwiderstehlich.

Montagvormittag mache ich die Kiste an und habe einen kleinen Rausch: Meine BPM-Zahl steigt. Das Leben fühlt sich schneller an, es ist nicht mehr alles an meine (reflektierten) Entscheidungen gebunden, ich kann mich dem (Online-)Strom hingeben!

Dabei hat sich mein Online-Verhalten stark verwandelt und ist, im Vergleich zu z.B. vor 10 Jahren, keine destruktive Veranstaltung mehr:

  • Keine Pornos
  • Keine Videospiele
  • Kein Social Media
  • Keine Nachrichten (Keine allzu große Leistung, weil ich diese nie wirklich viel konsumiert habe)
  • Etwa 20-30% von dem was ich anschaue, ist einfach Unterhaltung
  • Etwa 10-20 % der Zeit höre ich Musik
  • Etwa 5-10 % der Zeit lerne ich Spanisch
  • Mindestens 50 % von dem, was ich konsumiere, halte ich für geistig stimulierend bzw. inspirierend (Podcasts, Interviews, Vorträge, etc.)
  • Wenn ich lange Inhalte oder Musik höre, spiele ich währendessen ein Arcade-Spiel („Bubble Glee“), welches meine Unruhe im genau rechten Maß beruhigt und mir erlaubt am Stück konzentriert zuzuhören

Ich bemerke mittlerweile ziemlich deutlich, wenn ich eine Pause vom Online-Konsum brauche. Das nimmt dann meist die Form eines Sparzierganges oder Mittagsschlafes an.

Und manchmal verkacke ich es auch und hänge 1-2 Stunden zu lang vor der Kiste und fühle mich danach wie ein zerdrücktes Daunenkissen.

(Anmerkung: Gar nicht so schlecht, liest sich das alles. Ich bin ganz glücklich darüber!)

Unter der Woche weniger Online sein?

Es hat sich sehr deutlich gezeigt hat, ist dass ich entweder volle Kanone Offline oder volle Kanone Online sein kann.

Einen Mittelweg kriege ich bisher nicht hin. Also z.B. Online-Stunden pro Tag festlegen (14 bis 18 Uhr oder so) fühlt sich nicht machbar an. Vielleicht liegt das auch an mir, wer weiß, aber die Überwindung beim Wechsel von Online zu Offline ist einfach verdammt hoch.

Diese Entscheidung jeden Tag treffen zu müssen, fühlt sich so anstrengend an, dass ich mir nicht zutrauen würde es auf Dauer durchzuziehen. Lieber einmal pro Woche am Freitag. Denn sobald ich einmal im Offline-Groove bin, ist es nicht mehr schwer bis Montag dranzubleiben.

Das La Palma Experiment

Es steht ein weiteres Experiment an! Mein Freund Gabriel und ich werden 4 Monate nach La Palma gehen. Gabriel ist auch interessiert daran weniger Zeit Online (respektive vor dem Bildschirm) zu verbringen.

Während der Planung unseres Aufenthaltes hatte ich kurzzeitig die Überlegung, ob ich meinen Laptop zu Hause lasse und die gesamten 4 Monate offline verbringe, aber das schien mir aus verschiedenen Gründen etwas zu krass.

(Ich befinde mich bis Juni 2025 in einer Auszeit, sonst wäre der Dauer-Offline-Gedanke vor vornherein undenkbar gewesen.)

Durch die Überlegung entstand aber eine coole Idee: Wir nehmen nicht beide unsere Laptops sind, sondern teilen uns einen. Dadurch ist unsere jeweilige Online-Zeit zwangsläufig begrenzt. Und zusätzlich ist die Chance hoch, dass wir Online-Inhalte gemeinsam konsumieren werden und daraus eine gemeinsame Erfahrung machen, anstatt separat vor unseren Screens zu hängen. 

Diese Lösung fühlt sich sehr organisch an, da der Switch zum Offline Sein nicht auf Willenskraft beruht, sondern auf Absprachen zwischen uns und quasi „natürlicher“ Knappheit.

Mindestens die Hälfte der Zeit offline zu sein, ist also vorprogrammiert. Und es wird wahrscheinlich sogar deutlich weniger als das, da Gabriel und ich große Lust darauf haben die Insel zu erkunden, Menschen kennenzulernen, gemeinsame Projekte voranzubringen, Spanisch zu üben und weitere Aktivitäten, die fern vom Bildschirm stattfinden werden.

Zahlen und Community

Hier ein paar konkrete und perspektivische Zahlen zu den Offline-Experimenten

  • Ich war im Jahr 2024 etwa 125 Tage offline
    • Also etwa ein Drittel meiner Zeit
    • Zusätzlich zu den Wochenenden habe ich auch zwei Urlaube offline verbracht
  • Wenn ich die Offline-Wochenenden 7 Jahre durchziehe, werde ich in diesem Zeitraum 2 Jahre offline gewesen sein (Holy Shit!)
  • Wenn ich noch 50 Jahre lebe und die Offline-Wochenende durchziehe, werde ich über 14 Jahre Offline Sein (Hell Yeah!)

Ich befinde mich seit ein paar Wochen in einer beruflichen Auszeit. Seitdem beschäftigt mich sehr, wie ich meine Lebenszeit in Zukunft sinnvoll nutzen werde. Ich halte es für möglich, dass ich das „Offline Ding“ weiter vorantreiben werde, aber nicht mehr nur als Privatvergnügen, sondern um andere Menschen von der Idee und dem Lebensstil zu begeistern.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Weg in Richtung einer Community führen wird. Denn ich habe gelernt, dass mein eigenes Beispiel nicht zur Nachahmung motiviert: Es findet zwar jeder cool, dass ich jedes Wochenende offline bin, aber ich habe nicht mal im kleinen Kreis einen Trend gestartet.

Was sicher ist: Viele Menschen sind unzufrieden mit ihrem Online- und Bildschirmverhalten und schaffen es nicht dies zu verändern. Diese Menschen möchte ich ermutigen, begeistern und vernetzen. Denn gemeinsam geht Offline mit Sicherheit einfacher, als allein.

Auf bald

Jakob

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